Siegfried Lenz

So zärtlich war Suleyken



DIE ERSTE
DER MASURISCHEN GESCHICHTEN
 
Der Leseteufel
 
Hamilkar Schaß, mein Großvater, ein Herrchen von, sagen wir
mal, einundsiebzig Jahren, hatte sich gerade das Lesen bei-
gebracht, als die Sache losging. Die Sache: darunter ist zu ver-
stehen ein Überfall des Generals Wawrila, der unter Sengen,
Plündern und ähnlichen Dreibastigkeiten aus den Rokitno-
Sümpfen aufbrach und nach Masuren, genauer nach Suleyken,
seine Hand ausstreckte. Er war, hol's der Teufel, nah genug,
man roch gewissermaßen schon den Fusel, den er und seine
Soldaten getrunken hatten. Die Hähne von Suleyken liefen
aufgeregt umher, die Ochsen scharrten an der Kette, die be-
rühmten Suleyker Schafe drängten sich zusammen - hierhin
oder dorthin: worauf das Auge fiel, unser Dorf zeigte man-
nigfaltige Unruhe und wimmelnde Aufregung - die Geschichte
kennt ja dergleichen.
Zu dieser Zeit, wie gesagt, hatte sich Hamilkar Schaß, mein
Großvater, fast ohne fremde Hilfe die Kunst des Lesens bei-
gebracht. Er las bereits geläufig dies und das. Dies: damit ist
gemeint ein altes Exemplar des Masuren-Kalenders mit vie-
len Rezepten zum Weihnachtsfest; und das: darunter ist zu
verstehen das Notizbuch eines Viehhändlers, das dieser vor
Jahren in Suleyken verloren hatte. Hamilkar Schaß las es
wieder und wieder, klatschte dabei in die Hände, stieß, wäh-
rend er immer neue Entdeckungen machte, sonderbare dumpfe
Laute des Jubels aus, mit einem Wort: die tiefe Leidenschaft
des Lesens hatte ihn erfasst. Ja, Hamilkar Schaß war ihr derart
verfallen, daß er sich in ungewohnter Weise vernachlässigte;
er gehorchte nur mehr einem Gebieter, welchen er auf masu-
risch den »Zatangä Zitaj« zu nennen pflegte, was soviel heißt
wie Leseteufel, ....
 


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